Kommt das Ende für den politischen Liberalismus in Deutschland?

Eine Antwort an Christian Lindner nach den vergeigten Europa-, Regional-, Kreistags- und Gemeinderatswahlen

 

Sehr geehrter Herr Lindner,

Sie haben in Ihrem gestrigen Schreiben völlig zu Recht festgestellt, dass die FDP den größten Teil der Wähler an das Lager der Nichtwähler verloren hat, weil diese Menschen der FDP nichts zutrauen. In drei Schritten wollen Sie diese Menschen wieder erreichen, nämlich durch Schärfung des Profils, durch eine Erneuerung der „Marke FDP“ (was auch immer das sei, ich dachte bisher, es handele sich um eine liberale Partei, die nicht mit „Wodka Gorbatschow" vergleichbar sei) und durch Konzentration auf die nächsten Landtagswahlen.

Es tut mir leid, Ihnen schreiben zu müssen, dass das nicht funktionieren wird. Und ich schreibe dies als Linksliberaler, der einige Jahre Vorsitzender eines FDP-Stadtverbandes war und der feststellen musste, dass sich diese Partei von ihm weit wegbewegt hat. Ich antworte Ihnen auf Ihr gestriges Schreiben, weil ich den Verlust liberaler Inhalte in der FDP unerträglich finde. Sie müssen zwei Fragen beantworten:

1. Hat der Liberalismus in Deutschland überhaupt noch eine Chance?

2. Kann es der FDP gelingen, Liberale in Deutschland auf Dauer parteipolitisch zu organisieren?

Statt dessen bleiben Sie in Ihrem Schreiben bei allgemeinen und weitgehend inhaltsneutralen Phrasen.

 

Heike Göbel und Manfred Schäfers haben in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darauf hingewiesen, dass die FDP von Guido Westerwelle nach der Bundestagswahl 2009 fatale Fehler gemacht hat. Die Klientelpolitik für Hoteliers, der Einzug in das Entwicklungsministerium, der illiberale Umgang mit Kritikern der Euro-Rettungspolitik in der eigenen Partei sind da nur wenige Beispiele.

 

Die FDP ist binnen fünf Jahren von einer Programmpartei zur Sicherung individueller Freiheit in Verantwortung zu einem weit gehend inhaltsleeren und kompetenzfreien Verein des Taktieresn aus Koalitionsräson geworden. Wolfgang Münch hat auf Spiegel online zu Recht darauf hingewiesen, dass Guido Westerwelle, Philipp Rösler und Rainer Brüderle mit der Aufgabe "einen Beitrag für die Probleme des 21. Jahrhunderts" aus liberaler Sicht zu liefern, intellektuell überfordert waren. Diese intellektuelle Überforderung hat ihre Ursache darin, dass werthaltige und richtige Forderungen des Liberalismus vom Führungspersonal der FDP nicht mehr aus dem geistigen Grundlagen des politischen Liberalismus abgeleitet werden können. Dieselbe Überforderung fürchte ich auch bei Ihnen.

 

Statt um liberale Inhalte geht es dann um Personaldebatten. In vielen Führungsgremien und bei vielen Führungskräften auf Landes-und Bundesebene kann ein politisches Handeln aus dem geistigen Wurzeln des wertgebundenen politischen Liberalismus überhaupt nicht mehr erkannt werden.

 

Nach der verlorenen baden-württembergischen Landtagswahl 2011 haben die Spitzen-Liberalen im Ländle zu sogenannten Regionalkonferenzen eingeladen, sie wollten dort mit ihren Mitgliedern reden, sie haben aber in inhaltlicher Hinsicht eigentlich nichts gesagt. Die erforderliche Rückbesinnung auf die Grundlagen des wertgebundenen politischen Liberalismus hat nicht stattgefunden. Das gilt auch für die Bundespartei.

 

Die Voraussetzungen der freiheitlichen Ordnung begründet der wertgebundene politische Liberalismus vom Konzept der sittlichen Würde her, dass dem einzelnen Selbstentfaltung in Verantwortung erlaubt. Das geht mit einer politischen Kultur der Forderung nach ständiger Aufklärung einher.

 

Von einer solchen politischen Kultur hat sich die FDP Lichtjahre entfernt. Aus diesem Grund konnte das bundes- und landespolitische Personal der FDP jahrelang keine Antworten auf die drängenden Probleme unserer Zeit finden. Auf reflektierende Linksliberale hat man da lieber nicht gehört. Die haben ja nur den Politikbetrieb mit seiner Anbindung dieser einst liberalen Partei an die strukturreaktionäre, verfilzte und sklerotischeCDU gestört.

 

Der politische Liberalismus muss als prägende politische Grundlagenphilosophie der modernen Gesellschaften die Fragen nach der sozialen und ethischen Fundierung von Gesellschaft beantworten. Dafür muss sich der politische Liberalismus in diesem Land neu organisieren. Nur dann kann er der reaktionären Flucht in die Unmündigkeit und dem Ausblenden der ethischen Dimension politischen Handelns entgegentreten.

Machen wir uns nichts vor: die ständige Umsetzung der Freiheitsidee für alle Bereiche unserer Gesellschaft ist in der FDP auf der Strecke geblieben. Das hat massive Auswirkungen auf die Bildungspolitik, das hat massive Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit, und das hat massive Auswirkungen auf die Sicherung individueller Freiheitsrechte. Das hat weiterhin massive Auswirkungen auf eine verantwortete Sozial-und Wirtschaftspolitik, die sich den Forderungen eines ethischen pragmatischen Imperativ stellen muss.

 

Das abgetretene Führungspersonal war mit dieser inhaltlichen Auseinandersetzung weitgehend überfordert. Ich hatte da gewisse Hoffnungen auf Christian Lindner. Bisher sind die nicht erfüllt worden. Die Überforderung bleibt offensichtlich bestehen.

 

Neue Köpfe hat die FDP also, aber es braucht Inhalte für diese Köpfe, id est eine Diskussion über wertgebundenen Liberalismus und muss von diesen Werten her Antworten in der Bildungspolitik, in der Wirtschaftspolitik, in der Sozialpolitik und in der Innenpolitik finden.

 

Zuletzt hatten große Teile der FDP-Führungsriege in der Geheimdienstaffäre des vergangenen Jahres aus karrieristischen Nützlichkeitserwägungen sogar Bürgerrechte den Anforderungen einer völlig diffusen so genannten Sicherheitspolitik geopfert. Ich erinnere da nur an die teilweise hochnotpeinlichen Auftritte des Fraktionsführer der FDP/DVP im baden-württembergischen Landtag.

Auch deshalb haben viele Liberale der FDP den Rücken gekehrt und werden dies auch weiterhin tun. Deshalb engagieren sich viele Liberale lieber in einer zivilgesellschaftlichen Gruppe und deshalb suchen Liberale Wert gebundene Politikansätze außerhalb der FDP.

 

Nicht wenige FDP-Amtsinhaber haben die geistigen Grundlagen des politischen Liberalismus in ihrer Alltagsarbeit vergessen und verschüttet. Der Bürger hat das gemerkt, und er hat es entsprechend honoriert.

 

Immer mehr Bürger fühlen sich zunehmend hilflos einem strukturreaktionären staatlichen Machtapparat ausgeliefert. FDP-Politiker haben sich an diesem Machtapparat beteiligt, statt ihn zu kritisieren und Bürgerrechte zu sichern.

Andererseits muss der wertgebundene politische Liberalismus in dieser Republik organisiert sein, sonst droht auf Dauer eine Republik ohne Republikaner. Bürgerrechte werden zunehmend einfach abgeschafft, Freiheitsrechte eingeschränkt, staatliche Machtapparate wie zum Beispiel Geheimdienste sind außer Kontrolle geraten.

 

Hier liegen große Herausforderungen und Aufgaben für den wertgebundenen politischen Liberalismus. Sonst droht, dass nicht nur wertgebundene Liberale sich in die politische Emigration begeben, sondern viele Bürger in die innere und äußere Emigration. In den nächsten Monaten muss sich entscheiden, ob der verfasste politische Liberalismus in Deutschland noch eine Chance hat. Ob er diese Chance in der FDP hat, das ist eine zweite nachgeordnete Frage. Auch die muss in den nächsten Monaten beantwortet werden.

 

Wer immer antritt, den politischen Liberalismus in Deutschland wieder zu organisieren, er muss von der grundlegenden Idee der liberalen Frewiheit als Philosophie, dem Konzept der sittlichen Würde, her argumentieren. Rösler & Co. waren damit tatsächlich überfordert. Lindner & Co. scheinen es auch zu sein, jedenfalls haben Sie diese notwendige Grundlagendiskussion bisher nicht geführt. Wenn das nicht bald geschieht, können wir den politischen Liberalismus in Deutschland begraben.

 

Ihr

Peter Welchering

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Tapio Liller (Dienstag, 27 Mai 2014 17:15)

    Lieber Herr Welchering,
    Sie haben ja recht. In ihrer Diagnose über die Überforderung der Vorgängertruppe, den Machtopportunismus, und dass der Liberalismus wichtig für die Republik ist.

    Sie erwarten meiner Einschätzung nach aber zuviel, wenn Sie von Christian Lindner Wunder erwarten. Das wäre es nämlich gewesen, wenn die FDP schon 8 Monate nach der Zäsur zur Bundestagswahl schon all das geschafft hätte, was Sie und ich und sicher auch die vielen Hundert Neumitglieder seitdem erhoffen, ja auch erwarten. Dem Liberalismus in Deutschland wieder eine parteipolitische Heimat zu geben, ist meines Erachtens gleichermaßen eine Frage von Intellekt (eine Debatte über liberale Werte und was aus ihnen für die moderne Gesellschaft folgt muss schnell kommen, ja!) UND von kommunikativer Durchsetzungsmacht. Und da hat die FDP in ihrer außerparlamentarischen Rolle noch zu kämpfen. Die Medien wenden sich lieber den Populisten zu und beteiligen sich gern auch selbst an der Polarisierung. Die FDP ist medial weitgehend "abgemeldet". Das bedaure ich sehr, sehe aber auch (TV-)Auftritte wie jene von Alexander Lambsdorff im Europawahlkampf, die mich positiv überrascht haben. Mit ruhiger Stimme, klarem Argument und Sachkunde. Vernunft eignet sich selten für Aufmacherstories, das wissen Sie als Journalist ja selbst.

    Ich habe die FDP als Neumitglied seit der Bundestagswahl mit Neugier begleitet und sah bei einer Handvoll Veranstaltungen, u.a. mit Christian Lindner eine neue Parteiführung, die Kraft hat, Sympathien gewinnen kann und durchaus auch intellektuell was auf dem Kasten hat. Treiben wir sie doch einfach ermutigend vor uns her, statt sie schon nach so kurzer Zeit mit Zweifeln über ihre Fähigkeiten zu schwächen.

    Gruß,
    Tapio Liller

  • #2

    Markus Lochmann (Dienstag, 27 Mai 2014 19:43)

    Sie haben völlig recht. Als bekennender Linksliberaler ist man in der FDP in den letzten Jahren bestenfalls zur "tolerierten Randgruppe" geworden. Das wird sich auch nicht ändern, solange man die Libertären Schreihälse in der Partei nicht zur Ruhe bringt. Je öfter der Schrei nach Studiengebühren erschallt, nach vollständiger Privatisierung der Daseinsvorsorge; nach Markt ohne Moral und "Freiheit" ohne jede Verantwortung - desto weniger Menschen der politischen Mitte werden die FDP wählen (So haben wir auch bei dieser Wahl mehr Wähler nach links verloren als nach rechts) - und sie wird letztendlich in der politischen Versenkung verschwinden.

    Doch dazu muss es nicht kommen. Die FDP muss sich erneuern. Christian Lindner ist der richtige Mann, um diesen Prozess zu beginnen und zu steuern. Er muss nur den Mut dazu haben. Die Partei braucht neue Strukturen, frische Köpfe auch in den mittleren und unteren Rängen - das geht nur mit einer veränderten Wahl- und Organisationsstruktur.

    Die FDP braucht auch dringend ein neues Bild nach außen. Die alte Marke ist kaputt - und m.E. nicht reformfähig. Also brauchen wir eine neue. Schauen wir doch mal nach Österreich, wo die NEOS uns gerade erfolgreich vormachen, wie es geht.

    Ich fürchte, die von Ihnen angemahnte philosophische Tiefe im alltäglichen politischen Handeln lässt sich indes nicht wieder rekonstruieren - im Übrigen ist die kollektive Rezession des Rationalen beileibe kein Problem der Liberalen alleine. Ein Blick nach Frankreich liefert ja derzeit genug Empirie hierfür.

    Nein, Menschen machen ihre Entscheidungen leider immer mehr an einem impulsiven persönlichen Nutzendenken und diffusen Ängsten fest - hierfür müssen moderne politische Parteien flexible Antworten finden, ohne das gedankliche wertorientierte Grundgerüst dabei zu verlieren. Den Liberalismus in seiner Werthaftigkeit als Ganzes allen jederzeit vermitteln zu wollen, scheint mir in unserer Info-Häppchengesellschaft eine nicht zu bewältigende Aufgabe zu sein.

    Ich sehe den organisierten politischen Liberalismus in Deutschland keineswegs am Ende. Er wird sich neu organisieren - die Sammlungsparteifunktion droht die FDP jedoch aufgrund ihrer organisatorischen Un-Flexibilität zu verlieren. Hier muss die Parteiführung schnell und entschlossen handeln - hinderliche Elemente beseitigen und rasch neue Strukturen einführen.

    Die FDP kann nicht alles für jeden sein (wollen). Sie muss sich entscheiden - marktliberal oder bürgerrechtsliberal. Beides scheint mir in der ethischen Diskussion (siehe auch das Buch von Piketty) und in der Erkenntnis der Systemfehler der Krise von 2008 so nicht länger haltbar zu sein.

    Ein gangbarer Weg wäre es, die Thesen von Karl-Hermann Flach in 2014 zu übersetzen, eine klare Abgrenzung nach rechts zu unternehmen, die linksliberalen Elemente aus den anderen Parteien versuchen, wieder einzusammeln - und als moderne, lebendige Kraft der politischen Mitte Alternativen zu formulieren - ohne dabei die sozialen Errungenschaften moderner Gesellschaften immer wieder infrage zu stellen.

    Gepaart mit integren Persönlichkeiten und einem abschließenden mea culpa der "alten FDP" sehe ich durchaus Chancen für einen Neuanfang.

    Man muss es nur tun.

  • #3

    Heinrich Albert (Mittwoch, 28 Mai 2014 09:57)

    Bis zum Jahr 2013 war ich FDP-Mitglied. Nach der Bundestagswahl bin ich ausgetreten. Ausgerechnet die Bügerrechtspartei hat sich bei der NSA-Geschichte überhaupt nicht um Bürgerrechte geschert. Von Liberalismus haben in der FDP noch einige Mitglieder eine Ahnung, die meisten Mandatsträger nicht mehr. Wir brauchen eine neue liberale Partei. Denn der Liberalismus ist essentiell.

  • #4

    Heinz Schmidt (Donnerstag, 29 Mai 2014 12:42)

    Baum, Hirsch, Hamm-Brücher - da haben Liberale noch kluge Gedanken in die Politik eingebracht, die hatten was zu sagen. Rösler unKonsorten ging es nur um Posten, und das hat sich Lindner auch nicht geändert.- Kennen Sie Herrn Schmalzl, den verhinderten GBA? Nein, nicht? Heute ist der Mann RP in Stuttgart und fällt durch Anbiederei bei Schwarz-Grün und durch Vergessen liberaler Positionen auf. Solange die FDP Mitglieder wie Herrn Schmalzl hat, wird es mit dieser Partei bergab gehen. Denn sie ist solange keine liberale Partei sondern eine Partei der Polit-Karrieristen.

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