Narrare necesse est

 

Oder: Warum Journalisten nur noch so selten gute Geschichten erzählen (können)

 

 

 

Angeblich ist ja mit dem crossmedialen Zeitalter auch das Zeitalter des Geschichtenerzählens angebrochen. Geschichten seien wichtiger denn je, heißt es. Workshops zum Storytelling schießen wie gedüngte Pilze aus dem Boden. Tools zur Entwicklung „narrativer Produkte“ werden wie Sauerbier angeboten, und nur wer diese Software beherrsche, sei als Journalist noch zukunftsfähig – so hören wir von den selbsternannten Propheten des Storytelling.

 

Die Heilsbringer eines angeblich neu erfundenen Journalismus werden nicht müde, einen Zusammenhang von Daten-Journalismus, Storytelling und Social-Media-Plattformen in allen möglichen Spielarten zu erfinden. Denn da liege ja immerhin die Rettung des darbenden schreibenden und sendenden Gewerbes.

 

Schaut man sich allerdings an, was mit diesen hochkomplexen an journalistischen Erzeugnissen so hergestellt wurde und was aus den zahlreichen Storytelling-Workshops im ganzen Lande so herausgekommen ist, dann stellt sich ein Gemütszustand zwischen Enttäuschung und Wut ein. Klar, da gibt es Videos zu sehen – mitunter extrem schlecht gedreht und geschnitten. Da geben Infografiken einen Überblick über ein Thema. Einige Texte sind sogar durchaus lesbar, und opulente Bilderstrecken sorgen in seltenen Fällen sogar für die notwendigen Emotionen.

 

Aber wirkliche Geschichten, dazu spannend erzählt, die finden sich in diesem crossmedialen journalistischen Universum selten. Die versprochene narrative Wende jedenfalls ist ausgeblieben. Offensichtlich schaffen es immer weniger Journalisten immer seltener, spannende Geschichten gut zu erzählen.

 

Dabei wollen unsere Leser, Hörer und Zuschauer – unsere Nutzer – unbedingt gute Geschichten von uns geliefert bekommen. Das Interesse an „richtigen Geschichten“ ist riesengroß. Doch dabei handelt es sich um ein Interesse an einer bestimmten Art von Geschichte. Dieses enorm gestiegene Interesse hängt mit der Beschleunigung des Alltags und des Lebens der Menschen zusammen, und es hängt damit zusammen, dass wir es mit einer beschleunigten Objektivität zu tun haben.

 

Gerade diese beschleunigten Objektivität wollen und müssen die Menschen mit einer entschleunigten subjektiven Lebenswelt kompensieren. Darauf hat bereits vor einigen Jahren der skeptische Philosoph Odo Marquard hingewiesen und dabei die Bedeutung des von Edmund Husserl entwickelten phänomenologischen Konzepts der Lebenswelt für das Erzählen hervorgehoben.

 

Die guten Geschichten, die die Menschen also unbedingt – ihre Not wendend – als Kompensation für ihr Leben in der beschleunigten Objektivität brauchen, damit sie die genuin humane Perspektive und Dimension nicht aufgeben müssen, liefern wir Journalisten also viel zu selten.

 

Gute Geschichten müssen in der (inter-) subjektiven Lebenswelt fundiert sein, und sie müssen immer eine Perspektive aufzeigen, die weit über die verobjektivierende Realität der Datenwelt hinausweist. Dafür müssen die Daten der beschleunigten Objektivität übrigens in die erzählerische Perspektive eingeschlossen werden, von ihr gleichsam umfasst werden.

 

Das stellt erhebliche dramaturgische Anforderungen an die gute Geschichte im Journalismus. Statt sich um diese dramaturgischen Anforderungen zu kümmern, holen nicht wenige Kolleginnen und Kollegen dann lieber das Zauberwort „Storytelling“ aus dem Bullshit-Bingo-Koffer, legen das Social-Media-Narrativ obendrauf und runden mit ein paar angesagten Tools fürs Storytelling ab.

 

Dahinter steckt eine tiefe Verunsicherung vieler Journalisten. Sie trauen sich nicht mehr an die lebensweltliche Fundierung von Geschichten, weil sie keinen Zugang zu den philosophischen Grundlagen des Erzählens finden. Die beginnen übrigens immer mit dem Erstaunen.

 

Erstaunen aber verunsichert. Und darauf wollen sich dann zu viele Journalisten nicht einlassen. Außerdem ist es anstrengend, vom Erstaunen zu einer gelingenden Dramaturgie zu kommen. Dafür sind Journalisten aber oftmals zu bequem. Sie wollen sich diese Auseinandersetzung einfach nicht zumuten. Stattdessen bleiben sie lieber beim leichter verdaulichen zeitgeistigen und weitgehend unbestimmten „Storytelling“. Das ist jammerschade!

 

Denn es gilt: narrare necesse est!

 

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