Bindestrich-Journalisten sind mit der Wächterfunktion überfordert

Ich führe seit zwei Wochen eine aufschlussreiche und erschütternde Diskussion über den Fortbildungsbedarf im Journalismus. Da lief am 19. Dezember 2016, einem Montagabend, nach dem Anschlag am Breitscheidplatz in Berlin ein Reporter einer Berliner Tageszeitung über den Platz, hielt mit der Kameralinse seines Smartphones auf die Verletzten, und seine Redaktion streamte das live.

 

Natürlich und zu Recht wurde das heftig kritisiert. Der Reporter und seine Kollegen in der Redaktion haben journalistische Mindeststandards deutlich unterboten, Persönlichkeitsrechte verletzt und berufsethische Regeln missachtet.

 

Eine Kollegin wollte das Vorgehen entschuldigen mit den Worten: „Wenn man keine Zeit zum Denken hat und live berichten muss, passiert so etwas eben schon mal". Ein anderer Kollege, der überwiegend mit dem Abhalten von Seminaren seinen Lebensunterhalt verdient, forderte gar ein Krisentraining, das Journalisten Journalisten in die Lage versetzen solle, Mindeststandards bei der Berichterstattung nach und über Anschläge und andere Verbrechen zu beachten.

 

Die geschäftstüchtigen Kollegen von der ARD/ZDF-Medien Akademie hatten sogleich eine passende Seminar Idee zur Hand. „Social-Media-Souveränität in Breaking-News-Situationen“ wollten sie es nennen. Begeisterung bei jüngeren Kollegen, die so etwas für absolut notwendig halten, weil Smartphones und Social-Media-Kanäle den Journalismus doch vollkommen verändert hätten.

 

„Vielleicht sollten die Medien wieder Leute einstellen, die das journalistische Handwerk beherrschen“, merkte ein altgedienter Radiokollege an. Er erhielt von mehreren Kolleginnen und Kollegen Beifall und Unterstützung, von anderen Seiten aber auch verbale Haue.


Es entspann sich im folgenden eine von mir so nicht erwartete Diskussion zwischen zwei Alterskohorten. Die Kohorte der Dreissigjährigen argumentierte, dass die Vertreter der Ü-50-Fraktion keine Ahnung von modernem Journalismus hätten. Neue Auspielwege, neue Technik und vor allen Dingen das Smartphone hätten fundamental neue Herausforderungen und Arbeitsweisen mit sich gebracht, dass die bisherige journalistischen Standards völlig überholt seien, die traditionelle journalistische Ausbildung untauglich geworden sei.


Die „Alte-Säcke-Fraktion“ wollte hingegen keine umwälzend neue Situation im Journalismus feststellen und beharrte darauf, dass die berufsethischen Regeln, Regeln der Stilfomen und Recherche in systematischer Hinsicht nach wie vor in gleicher Weise gelten und sogar dieselben seien wie vor 20 oder 30 Jahren. Selbstverständlich habe sich die Technik rasant entwickelt, weshalb Journalisten heutzutage wesentlich umfangreichere technische Fertigkeiten haben müssten. Auch die Arbeitsverdichtung habe zugenommen. Das ändere aber nichts an der journalistisch-systematischen Basis unserer Arbeit.


Eine völlige Verkennung der beruflichen Wirklichkeit warf die Fraktion junger Journalisten den Altgedienten vor. Der rasante Streaming-Journalismus habe mit dem betulichen Publizieren der alten Garde nicht mehr das Geringste zu tun.

 

Wir müssen Live-Berichterstattung unter Social-Media-Bedingungen neu definieren, lautete ihre Förderung. Der moderne Live-Berichterstatter sei allein mit seinem Smartphone unterwegs, und eine Kontrollinstanz in der Redaktion sei nicht mehr vorhanden. Wo er seine Kamera resp sein Smartphone drauf halte, das werde Live gesendet. Darauf sei er nicht vorbereitet.


Live-Berichterstattung sei Handwerk, so die Alten. Und zu den handwerklichen Regeln gehöre die Abnahme durch einen CvD. Das gelte auch für den Einsatz von Smartphones.


Die Diskussion drehte sich ein wenig im Kreis. Prinzipiell ging es um drei Fragen: 1. Lassen wir Arbeitsbedingungen zu, die die redaktionelle Verantwortung einseitig und ausschließlich auf den Reporter vor Ort verlagern, weil personelle Ressourcen eingespart werden müssen? 2. Lassen wir zu, dass Reporter besinnungslos irgendwo draufhalten und keine Zeit mehr fürs Denken oder gar Recherche haben? 3. Lassen wir es zu, dass miserabel oder gar nicht ausgebildete Kolleginnen und Kollegen zur Berichterstattung an Tatorte geschickt werden, deren massive Fehler dann mit den neuen Bedingungen eines angeblichen „Livestream-Journalismus“ weg-gerechtfertigt werden?


Ich beantworte alle drei Fragen mit einem klaren Nein!


Und ich werbe für und fordere eine so gute handwerkliche und systematische Ausbildung von Journalistinnen und Journalisten, dass die Kollegen genau wissen, wie sie eine Live-Situation planen und dann auch erfolgreich realisieren.

 

Das setzt aber eine umfassende Aus- und Fortbildung voraus, die sich an den entwickelten berufsethischen Regeln, Stilformen, Recherchetechniken und Präsentationsformen orientiert und diese weiterentwickelt.

 

Semiausbildungen zu Bindestrich-Journalisten (Drohnen-Journalismus, Social-Media-Journalismus, Daten-Journalismus, Investigativ-Journalismus, Breaking-News-Journalismus, Mode-Journalismus und wie diese Halbheiten alle heißen) helfen da nicht viel weiter. Denn dort werden die journalistischen Grundlagen nicht vermittelt, sondern Schaumkrönchen. Wer mit diesem Schaumkrönchenwissen in eine Live-Situation geht, wird Scheitern.

 

Natürlich ist nichts gegen ein zum Beispiel datenjournalistisches Fortbildungsseminar einzuwenden. Wer aber meint, damit journalistisches Grundlagenwissen ersetzen zu können, der irrt. Dummerweise werden auch in solchen „Bindestrich-Fortbildungen“ oftmals nicht einmal die für diese den Journalismus ergänzende Disziplin notwendigen Grundlagen vermittelt.

 

Wenn ein Kollege von einem Seminar über Datenjournalismus zurückkommt und weder Graphentechnologie auf ein umfängliches Recherche-Projekt anwenden kann noch weiß, was es mit der Gaußschen Normalverteilung auf sich hat, stattdessen aber jede datenjournalistische Bullshit-Bingo-Runde mit den entsprechenden Hashtags versorgen kann, war das für ihn und die Redaktion verlorene Zeit.


Und hier liegt der Hund begraben. Damit Journalisten ihre Wächterfunktion ausüben können, brauchen die Grundlagenwissen und müssen geübt haben, es anzuwenden. Der Floskelkoffer aus dem Beratergewerbe wird ihnen bei ihrer Aufgabe nicht helfen. Das wird dann anlässlich solcher aus dem Ruder gelaufenen Liveberichte von Tatorten schmerzhaft erfahren.

 

Die Konsequenz daraus muss lauten: Zurück zu den journalistischen Grundlagen!

 

Ein Seminar zur Vermittlung von Social-Media-Souveränität in Breaking-News-Situationen hilft da nicht weiter, wohl aber das klare Wissen um die klassischen Nachrichtenfaktoren, die Kreuzrecherche dazu und die – in berufsethischer Hinsicht – saubere Präsentation. Auch wenn der innovative New-Media-Zeitgeist das ziemlich retro findet.

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Kommentare: 3
  • #1

    Name (Mittwoch, 04 Januar 2017 21:51)

    Danke!

  • #2

    katharina dockhorn (Sonntag, 08 Januar 2017 13:01)

    Danke Dir, dass Du diese Diskussion auf diesem Niveau führst. ich gehöre auch zu den Dinosauriern, die bestimmte Standards verinnerlicht haben. Und hier liegt der Hund begraben. Die Schmerzgrenze hat sich verschoben, Distanz ist verloren gegangen. Sensationen, Spekulationen, Schlagzeilen- und Klickgehasche statt Recherche und journalistischer Standards. Die Argumentation junger Kollegen lässt vermuten, dass moralische und ethische Kriterien von uns Grufties nicht mehr gelehrt werden. Was ich kaum glauben kann.

  • #3

    Bindestrich-Journalist (Freitag, 24 März 2017 09:45)

    "(...) ein Krisentraining, das Journalisten Journalisten in die Lage versetzen solle (...)"
    "(...) lautete ihre Förderung"
    Korrekturlesen scheint offenbar keine journalistische Grundlage mehr zu sein.

Was kann ein Comiccast?