Memento Mori - Gedanken vor dem 1. November

Als die Ärzte vor vier Jahren eine Tumorerkrankung bei mir diagnostizierten, war ich nicht nur mit einer gesundheitlichen Krise konfrontiert, sondern auch mit einer philosophischen. Ich lag noch im Klinikbett nach erfolgter Operation mein philosophisches Weltbild regelrecht von der Wand fiel.

 

Die phänomenologischen Analysen Husserls hatten mir nicht nur als erkenntnistheoretische Grundlage auch meiner journalistischen Arbeit gedient, sondern waren auch mit ihrer lebensweltlichen Fundierung eine Existenzbasis für mich. Ich hatte mich schon zuvor sehr intensiv mit Husserls a-theistischer Theologie auseinandergesetzt. Ich fand den Gedanken nachvollziehbar, dass eine leistende Subjektivität auch hinter dem letzten Prinzip der Konstitution von Welt stecken müsse.

 

 

Konfrontiert mit meiner Tumorerkrankung trug mich dieser Gedanke in meiner alltäglichen Erfahrung, in meinem alltäglichen Tun nicht mehr. Ich hatte das nicht erwartet und war sehr erschrocken.

 

 

Als sehr junger Mensch hatte ich mich sehr intensiv mit dem „Vorlaufen in den Tod“ bei Heidegger auseinandergesetzt. Doch hatte Heidegger dieses Sinnkonzept durch seine heroischen Schlussfolgerungen unannehmbar werden lassen.

 

Und auch die nachfolgenden existenzialistischen Strömungen halfen mir nicht weiter – weder als ich mich als Gymnasiast und später junger Philosophiestudent damit beschäftigte, noch in meiner Situation als Patient, dem tüchtige Chirugen gerade einen Tumor aus dem Körper geschnitten hatten.

 

Ich führte ein Denktagebuch, um mir besser Rechenschaft ablegen zu können, wie ich meine existenzielle Situation denkerisch bewältigen oder ob ich dabei scheitern würde.

 

Die Jahre nach der Operation waren eine denkerisch aufgewühlte Zeit. Gott sei Dank lernte ich sehr rasch, meinen Alltag auch mit den Einschränkungen, die die Tumorerkrankung nach der Operation eben so mit sich brachte, einzurichten. So blieb – immer viel zu wenig – Zeit für Gespräche und fürs Denken.

 

 

Ich habe inzwischen einen Zugang für mein Leben auf den Tod hin denkerisch finden können, der mich gut leben lässt. Dieser Zugang ist von der aufkommenden Lebensphilosophie und ihren phänomenologischen Ausprägungen stark beeinflusst.

 

Ich habe mich dabei zunächst von den noch verbliebenen Resten Heideggerscher Philosophie befreien müssen. Insbesondere die unbegründeten heroischen Weiterungen seiner existenzanalytischen Darlegungen haben mir den Blick auf diese existenzialontologischen Fragestellungen sehr lange verstellt.

 

Deshalb habe ich die Diskussion über die starken Parallelen von Heideggers „Sein und Zeit“ und Carlo Michelstaedters „Überzeugung und Rhetorik“  als sehr befreiend empfunden. So gelang mir endlich ein unverstellter Blick auf die Existenzialanalyse und die Bedeutung der phänomenologischen Reduktion für die existenziellen Grundfragen.

 

Der Weg der phänomenologischen Reduktion über die Lebenswelt ist dabei ein guter Ansatzpunkt. Thomas Vasek hat mit seinem „Schein und Zeit“ dafür wichtige Einblicke vermittelt. Die Arbeit am Text von Carlo Michelstaedter hat eine ganze Reihe von existenzialontologischen Aporien für mein Denken unwesentlich werden lassen. Erstaunlicherweise hat mich die vergleichende Lektüre von „Sein und Zeit“ und „Überzeugung und Rhetorik“ gar nicht wie erwartet auf die Spuren Nietzsches und Schopenhauers geführt, sondern bei Augustinus Aufklärung suchen lassen.

 

 

Dieser Denkweg hat mir die Möglichkeit eröffnet mein Leben auf den Tod hin als eine sinnvolle Existenz denken zu können.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Name (Mittwoch, 30 Oktober 2019 14:32)

    Hallo Herr Welchering,

    als Nichtphilosophiegelernthabender tue ich mich schwer mit den Begrifflichkeiten. Aber die Physik der Energieerhaltung und die von Einstein' postulierte Energie- Masseäquivalenz sowie unser körperliches Bestehen aus Sternenstaub lassen mich nicht daran zweifeln, dass die Wechselwirkung unserer Bestandteile und Überbleibsel Wirkung auch in unser Nachleben entfacht. Umso mehr Ideen.

    Ich erfahre Sie als steten Kämpfer für die Aufklärung. Und würde mir gerne wünschen, dass Sie - wenn Sie wie wir alle irgendwann den Löffel abgeben - sich freundlich lächelnd zurückzulegen vermögen und sich "Ich habe den Tag meinen Fähigkeiten entsprechend genutzt." sagen zu können.

    In diesem Sinne: Frohes Schaffen. Gönnen Sie sich auch mal eine Auszeit von der Telekom. ,-)

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