Der Verlust der Wahrheit in der Politik - Probekapitel: Platons Lehre von der Wahrheit

2. Die Rekonstruktion des Höhlengleichnisses in Martin Heideggers Vorlesung „Platons Lehre von der Wahrheit“

 

Während die Erkenntnisse der Einzelwissenschaften in Protokollsätzen, Theorien und Hypothesen formuliert werden, ist das „proprium doctrinae“ eines „Liebhabers der Weisheit“, eines Philosophen oder Denkers, Heidegger zufolge im Bereich des Ungesagten zu suchen. Das Ungesagte erschließt sich für Heidegger allerdings zur Zeit der Konzeption seiner Vorlesung über „Platons Lehre von der Wahrheit erst durch Bedenken des positiv Artikulierten. In späterer Zeit erfährt diese Sichtweise eine gewisse Variation in der Darstellung. Heidegger will in der Vorlesung das Ungesagte der platonischen Dialoge als „eine Wendung in der Bestimmung des Wesens der Wahrheit“[1] benennen.

 

Aus diesem Grund stellt er die Seiten 514A bis 516C des platonischen Werkes „Der Staat“[2] in eigener und teils eigenwilliger Übersetzung unter Beigabe des griechischen Textes dem auslegenden Teil der Bearbeitung voran.[3] Heideggers exegetische Arbeit stellt alsdann zunächst im Gleichnis dargebotene Einzelbilder und deren Funktion unter Berücksichtigung etymologischer und anderer philologischer Klärungen vor, wozu auch die von Platon selbst vorgenommene Deutung der Einzelbilder des Gleichnisses herangezogen wird.[4] Dabei legt Heidegger Wert auf die Feststellung, dass Platon die Idee weder als bloßen Aspekt noch als Konzept ansetze. Vielmehr spreche Platon von einem „Aussehen“, das weit über den bloßen „Aspekt“ hinausgehe. „Das ‚Aussehen’ hat für ihn noch etwas von einem ‚Heraustreten’, wodurch jegliches sich ‚präsentiert’. In seinem ‚Aussehen’ stehend zeigt sich das Seiende selbst. ‚Aussehen’ heißt griechisch εἲδοςoder ἰδέα.“[5] Die sich selbst zeigenden Dinge versteht Heidegger in den platonischen Gleichnissen als „Bild“ für die Ideen“. Und im Höhlengleichnis gilt die Sonne „als das ‚Bild’ für jenes, was alle Ideen sichtig macht. Sie ist das ‚Bild’ für die Idee aller Ideen. Diese heißt nach Platon τοῦἀγαθοῦἰδέα, was man wörtlich und doch recht missverständlich übersetzt mit dem Namen ‚die Idee des Guten’.[6]  Damit will Heidegger eine Einführung in die δόξα des Höhengleichnisses leisten. Dabei darf man die Bezüge auf den Begriff der δόξα, wie ihn Edmund Husserl in seiner Begründung einer „Wissenschaft von der Lebenswelt“[7] exponiert, nicht übersehen. Dieses Konzept hat Husserl seit den zwanziger Jahren in zahlreichen Forschungsmanuskripten als Ausgangspunkt für den lebensweltlich-ontologischen Weg in die transzendentale Reduktion eingeführt, der weit über die Beschreibung der bloßen Sachen als Sachen der Welt hinausführt zu einem wirklichen Verständnis dieser Sachen.[8] Mit seinem Schüler und zeitweiligen Assistenten Heidegger hat Husserl dieses Konzept sehr intensiv diskutiert. Heidegger hat unter diesem Einfluss in „Sein und Zeit“ die Grundverfassung des Daseins als „in der Welt sein“ charakterisiert. „Sein und Zeit“ erschien im Jahre 1927. Edmund Husserl hat in seinem Werk „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“ basierend auf seinen Forschungsmanuskripten aus den zwanziger Jahren eine Wissenschaft von der Lebenswelt gefordert, wobei er bezüglich der „Exposition des Problems einer Wissenschaft von der Lebenswelt schreibt: „Das wirklich Erste ist die ‚bloß subjektiv-relative’ Anschauung des vorwissenschaftlichen Weltlebens. Freilich hat für uns das ‚bloß’ als alte Erbschaft die verächtliche Färbung der δόξα. Im vorwissenschaftlichen Leben hat sie davon natürlich nichts; da ist sie ein Bereich guter Bewährung, von da aus wohlbewährter prädikativer Erkenntnisse und genauso gesicherter Wahrheiten, als wie die ihren Sinn bestimmenden praktischen Vorhaben des Lebens es selbst fordern.“[9]

 

 

 

 



[1] PLW 5, WM 109

[2] Platon: Der Staat, Gesamtausgabe Band 4, hrsg. von Gunther Eigler, Darmstadt 1971

[3] Die erforderliche Paraphrasierung der drei platonischen Gleichnisse, mit der Platon die „Idee des Guten“ veranschaulichen will, stelle ich in einem eigenen Unterkapitel vor, um sie von der Heideggerschen Rezeption ausreichend unterschieden präsentieren zu können.

[4] vgl. PLW 19/20 bzw. WM 120.

[5] PLW20

[6] PLW 21

[7] Hua VI,126

[8] vgl. dazu Welchering,Peter: Wissenschaft als Grenzwert. Die noematische Phänomenologie in ihrer wissenschaftsbegründenden Funktion (München 2011), 116f.

[9] Hua VI,127f.

 

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