15. Kapitel

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„Es ist eine ernste Lage eingetreten, die ich aber für beherrschbar halte“, eröffnete Steffen B. Schneider, der Leiter der Projektgruppe Argus im Meckenheimer Studienzentrum, das abendliche Zusammentreffen. Argus war als sogenanntes Joint Project gemeinsam mit hochrangigen Mitarbeitern des Bundeskriminalamtes und des Innenministeriums in Berlin gestartet worden. Dem Projektleiter unterstanden vier Mitarbeiter, die für die Koordinierung zuständig waren und zwei technische Leiter, die sich um die Weiterentwicklung und den Betrieb der Pilotsysteme kümmerten sowie entsprechende Programmierarbeiten vergaben und deren Durchführung überwachten.

Für den Betrieb der Pilotprojekte vor Ort waren die Mitarbeiter der Koordinierungsstelle zuständig, holten sich aber des öfteren Unterstützung bei ihren technischen Kollegen. So war Gunnar Bauer, einer der beiden technischen Leiter, allein vier Mal im Neckarstädter Rathaus gewesen, bis die Business-Intelligence-Software Daten für die Profilerstellung im richtigen Format und nach Bearbeitung mit den korrekten Filtersets lieferte. Bisher wurden drei Pilotprojekte unterhalten. In Neckarstadt ging es um Auswertungs-Algorithmen für die flächendeckende Mail-Überwachung. In Dresden wurden Systeme für die massenweise Verarbeitung von Mobilfunkdaten erprobt, und im Meckenheimer Studienzentrum war ein Forschungs- und Auswertungszentrum eingerichtet worden, dessen Mitarbeiter Persönlichkeitsprofile aufgrund der in Neckarstadt und Dresden gewonnenen Mail- und Verbindungsdaten erstellten.

Diese Daten wurden mit weiteren persönlichen Informationen aus Behörden und öffentlich im Netz zugänglichen Daten angereichert und verdichtet. Die ersten Testerergebnisse konnten sich durchaus sehen lassen. So hatte sich gezeigt, dass es mit „Argus“ möglich war, die grobe Tagesplanung der Testpersonen und fallweise sogar ihr konkretes Verhalten dank der eingesetzten Mustererkennung und der mit Bourbaki-Matritzen arbeitenden Prognosesoftware mit einer ziemlich hohen Wahrscheinlichkeit im Voraus zu berechnen. Abweichendes Verhalten wurde sogar mit einem Superwert von 95 Prozent erkannt. Und in einigen Fällen hatten die Argus tragenden politischen Kräfte Kommunal- und Landespolitiker unterschiedlicher Couleur durch den Hinweis auf Argus-Datenbestände sogar zu erwünschtem Abstimmungsverhalten veranlassen können.

Einer der geistigen Väter von Argus war der frühere BKA-Präsident Dr. Heinz Rufer. Der „Präsident des Bundeskriminalamtes a. D.“ wie er sich gern nannte und auf seinen privaten Briefbogen hatte drucken lassen, war der festen Überzeugung, dass nur der überwachte Mensch ein guter Staatsbürger sein könne. Nach seinem Dafürhalten handelten alle Menschen früher oder später bei sich bietender Gelegenheit gegen die Staatsinteressen und damit ethisch verwerflich. Um das verhindern zu können, gab es nur einen Weg: Komplettüberwachung mit sozialen Prognose.

Rufer wollte von allen Bundesbürgern Profile anlegen, die durch die täglich anfallenden Verhaltensdaten stetig verfeinert werden konnten. War die Datenbasis breit genug, war die Verhaltensprognose kein Problem. De iterativ arbeitenden Algorithmen waren verfügbar, die Hardwareausstattung dafür erschwinglich, der notwendige Speicherplatz selbst für eine Komplettüberwachung und täglicher Profilerstellung für jeden Bundesbürger kein Problem mehr.

Der frühere BKA-Chef hatte sich allerdings bei allen im Bundestag vertretenen Parteien eine Abfuhr geholt, als seine Gesetzesentwürfe für eine „gesellschaftliche Hygiene-Polizei“ in die Diskussion brachte. Diese neu zu schaffende Polizeitruppe sollte jeden, der sich laut der computergenerierten Verhaltensprognose in absehbarer Zeit in ethischer oder rechtlicher Hinsicht nicht systemkonform verhalten würde, ohne richterliche Anordnung isolieren dürfen, bevor er die Tat begehe könnte. Diese Diskussion hatte Rufer sein Amt als BKA-Präsident gekostet.

Doch einige rechtsnationale Politiker sympathisierten durchaus mit Rufers Ideen. Auch in den Reihen der SPD- und Grünen-Abgeordneten fanden Rufers Ideen nicht ganz abwegig. Und bei den Bundestagsabgeordneten der Linken sahen einige Rufer als Fortsetzung des Ministeriums für Staatssicherheit mit anderen, sprich: moderneren, Mitteln. Nur die FDP-Vertreter im Parlament nahmen von Rufer keine Notiz, weil sie viel zu sehr mit internen Machtkämpfen beschäftigt waren.

Nach seinem Abschied aus dem Amt des BKA-Präsidenten war Rufer Korbinian Filzhuber empfohlen worden, der nach seinem Abschied aus der aktiven Landespolitik den Meckenheimer Kreis mit seinem Studienzentrum als rechtsnationalen Think-Tank gegründet hatte. Der Meckenheimer Kreis finanzierte sich aus wohlhabender Gönner, war mit anderen am rechten Außenrand operierenden politischen Kräften in ganz Europa und Nordamerika bestens vernetzt und hatte gutes Geld mit der Entwicklung und teilweisen Umsetzung politischer Kampagnen für befreundete Regierungschefs in Minsk und Moskau gemacht. Außerdem konnte der Meckenheimer Kreis nicht wenige Beamte in Leitungsfunktionen in fast allen Bundesministerien und sehr vielen Landesministerien aktivieren, wenn wieder einmal Geld benötigt wurde. Allein die aus unterschiedlichen, teilweise sehr versteckten, Haushaltsstellen des Bundes bereit gestellten Mittel betrugen jährlich knapp sieben Millionen Euro.

Für Korbinian Filzhuber war der ehemalige BKA-Chef mit seiner gesellschaftlichen Vision und seinem ausgezeichneten technischen Verständnis ein Geschenk des Himmels gewesen. Rufers Know-How in Sachen digitaler Lauschangriffe und Computerspionage ließ sich ausgesprochen gewinnbringend in Projekten mit weißrussischen Partnern einbringen. Phishing beim Online-Banking und die Arbeit mit Zero-Day-Exploits genannten Schwachstellen in Softwaresystemen hatten die für den Start von Argus erforderlichen Mittel rasch eingespielt.

Dank der noch immer exzellenten Verbindungen Rufers ins Bundesministerium des Inneren und in das Bundeskriminalamt hinein, konnte ein in beiden Häusern tätiger „Arbeitsstab Argus“ eingerichtet werden. Insgesamt gehörten diesem Arbeitsstab knapp 30 Mitglieder an, die in erster Linie die Verantwortlichen des Meckenheimer Kreises in allen Fragen Argus betreffend berieten. Die BKA-Mitglieder des Arbeitsstabes hatten sogar eine „Abteilung für nasse Angelegenheiten“ eingerichtet, die unliebsame Kritiker und gefährliche Gegner von Argus mit Unterstützung aus dem Innenministerium und des Bundesnachrichtendienstes aus dem Verkehr ziehen konnten.

Die „Abteilung für nasse Angelegenheiten“ war Rufers besonderer Stolz. Sie bestand aus drei Einsatzteams mit jeweils vier Mitgliedern, und er hatte den Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes in einem vier Stunden dauernden Gespräch persönlich für die Ziele von Argus gewinnen können.

 

 

Hörbuch: Mail-Mord in Neckarstadt - 15. Kapitel
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